Solidarische Landwirtschaft und Gemüsemengen

Wir (der Kokreis) hören vor allem im Frühjahr häufiger, dass es – abgesehen von Problemen am Verteilpunkt (anderes Thema!) – "zu wenig" Gemüse gäbe, dass ein Gemüseanteil "zu teuer" sei und mensch ja auch gleich auf dem Markt einkaufen könne. Häufig handelt es sich dabei um Missverständnisse oder die Person hat sich noch nicht so intensiv mit den Themen Solidarische Landwirtschaft und/oder Regionalität und Saisonalität auseinandergesetzt. Deshalb kommt hier ein zugegeben etwas längerer Text, der im Kern beschreibt, was Solidarität, Regionalität und Saisonalität für uns bedeuten und was das mit dem Gemüse zu tun hat, das ihr jeden Mittwoch an den Verteilpunkten abholt:

"Ein Anteil bei der Solawi Marburg ist mit 61 Euro Richtwert (Saison 20/21) zu teuer."

Ein Aspekt von Solidarität besteht unserem Verständnis nach darin, saisonales und regionales Gemüse allen zugänglich zu machen, unabhängig vom Einkommen und ohne, dass stattdessen eine andere Gegenleistung, etwa aktive Mithilfe, verlangt wird. Es ist also theoretisch möglich, 0 Euro zu bieten (und zu keinem Ackereinsatz zu kommen). Tatsächlich reichen die Gebote von 15 Euro bis 75 Euro und der Haushalt ist gedeckt. Jede*r kann also selbst entscheiden, wie viel er*sie für den Anteil bezahlt, "zu teuer" kann ein Anteil also aus einem individuellen Blickwinkel gar nicht sein; es sei denn, die fragliche Person hat ihre finanziellen Möglichkeiten falsch eingeschätzt.
Hierzu ein Hinweis: Mitglieder, deren finanzielle Situation sich im Laufe einer Saison ändert, können sich gern bei uns melden und wir schauen, ob es möglich ist, die Beitragszahlungen entsprechend zu reduzieren. Das gilt auch unabhängig von Corona und ist jeweils eine Einzelfallentscheidung.
Übrigens: Noch gar nicht erwähnt wurde, dass es ja nicht nur Gemüse, sondern auch Obst und Honig gibt. Vom Durchschnittswert (ca. 58 Euro) entfallen ca. 50 Euro auf die Gemüseproduktion und 1 Euro auf die Honigproduktion. Die verbleibenden ca. 7 Euro sind dem Verein zugeordnet. Zu diesen Kosten gehören die Verwaltungsstelle (zur Zeit besetzt durch Vera), die Herstellung von Apfelsaft sowie die Verteilung von Tafelobst, Raummieten, Vereinsveranstaltungen, Reisekosten, Versicherungen sowie einige weitere kleinere Posten. Diese Infos könnt ihr übrigens jederzeit im Haushalt nachlesen, der im internen Bereich auf der Homepage verlinkt ist (einloggen, dann klicken auf Intern → Finanzen → Haushalt 20/21).
Zur Erklärung hier noch ein paar Worte zum Unterschied zwischen Richtwert und Durchschnittswert: Der Durchschnittswert ist der Betrag, der real zur Deckung der Kosten von Gemüse-, Saft-/Obst- und Honigproduktion sowie der im Verein anfallenden Kosten benötigt wird. Wir kommunizieren einen um 5% höheren sogenannten Richtwert, um das Verfahren der Finanzierungsrunde zu beschleunigen.

"Ich habe das Gefühl, dass die Gemüsemenge ziemlich gering ausfällt, wenn man bedenkt, dass der Richtwert bei immerhin 61 Euro (Saison 20/21) liegt."
Und: "Früher gab es mehr Gemüse bei der Solawi Marburg."

Im Saison- sowie im Jahres-Durchschnitt landen etwa 2-3 Kilo Gemüse wöchentlich an den Verteilpunkten; diese Werte können aber auch weiter nach unten und oben ausschlagen. Im Frühling und Frühsommer wächst in unserer Region eben noch nicht besonders viel und das Lagergemüse ist auch alle. Ab Juli/August gehen die Liefermengen wieder deutlich nach oben. Ein Vergleich der Liefermengen, den Vera angestellt hat, kam zu folgenden Ergebnissen:

Lieferdatum

2014

2015

2016

2017

2018

2019

2020

Ende April/Anfang Mai

 

1000g

2100g

2300g

2600g

1900g

1000g

Ende Juni/Anfang Juli

 

2300g

3000g

2900g

2900g

1620g

 

Ende August/Anfang September

4550g

1900g

3150g

3040g

3300g

4000g

 

Ende November/Anfang Dezember

3500g

2120g

3100g

2700g

3300g

4100g

 

Es gibt also auch im Jahresvergleich Schwankungen in beide Richtungen. Natürlich ist das eine recht willkürliche Auswahl von Daten; z. B. gibt es ja nicht jede Woche Möhren und Kartoffeln, davon dann aber meist 1kg, das treibt die Liefermenge schnell hoch. Anfang Mai war außerdem in den meisten Jahren die Radtour zum Saisonstart, bei der wir das ganze Gemüse mit Lastenrädern transportiert haben. Da hat Uwe uns freundlicherweise eher das leichte Gemüse in die Kisten gepackt. Außerdem empfinden viele die eher leichtgewichtigen Gemüsesorten Paprika, Rucola oder Kräuter als wertvoller im Vergleich mit schwereren wie z. B. Kartoffeln. Die obige Tabelle soll nur zeigen, dass es keineswegs von Jahr zu Jahr weniger Gemüse gibt.

Ein ähnliches Ergebnis zeigt ein Vergleich der Liefermengen bei den Tomaten, den Dirk und Vera zusammengestellt haben:

Saison 13/14: 4,6 kg pro Anteil
Saison 14/15: 8 kg pro Anteil
Saison 15/16: 9,4 kg pro Anteil plus eine Tomatenpflanze pro Anteil (wegen Fehllieferung)
Saison 16/17: 9,6 kg pro Anteil
Saison 17/18: 7 kg pro Anteil
Saison 18/19: 9,6 kg pro Anteil
Saison 19/20: 8,1 kg pro Anteil
Saison 20/21: 9,7 kg pro Anteil (Nachtrag vom 19.12.2020)

Grundsätzlich gilt für alle Sorten: Es gibt zu nasses, zu trockenes, zu windiges, zu warmes und zu kaltes Wetter, Schädlinge und Nützlinge, Pflanzenkrankheiten, mehr oder weniger engagierte Mitglieder, Aufwand-Nutzen-Abwägungen, gut und schlecht aufgehendes Saatgut sowie einen Haufen weiterer Gründe, warum es von einer Gemüsesorte mal sehr viel, mal sehr wenig oder eben auch gar nichts gibt. Wir halten euch mit regelmäßigen Ackerberichten über den Anbau auf dem Laufenden und erklären darin, warum es wovon wie viel gibt.

Übrigens kamen im Lauf der Jahre auch immer mal wieder neue Sorten dazu, so wie Süßkartoffeln, Knoblauch und Erdbeeren. Manche haben in einigen Jahren super funktioniert, bei anderen ist die Ernte nicht so gut ausgefallen. Jedenfalls ist Diversität auf dem Acker eine tolle Sache!

"Da kann ich ja auch gleich auf dem Markt einkaufen gehen."

Stimmt! Auch mit Gemüse, Obst und Honig vom Markt könnt ihr euch regional und saisonal ernähren. Tatsächlich haben wir mal ausgerechnet, was es kosten würde, das an uns gelieferte Gemüse auf dem Markt in Bio-Qualität (Anbauverbands-Siegel) zu kaufen – ungefähr so viel wie bei uns.
Der Unterschied zum Kauf im Laden oder auf dem Markt ist der, dass wir solidarisch auch Ernteausfälle mittragen. Zudem und vielleicht noch viel wichtiger: Wir erproben eine alternative Wirtschaftsweise, in der das Gemüse seinen Preis verliert und seinen Wert zurückgewinnt! Wir wollen die realen Kosten eines Betriebs tragen, statt einfach nur Gemüse zu kaufen bzw. zu verkaufen. Ein weiterer Vorteil: Auch auf den Marktständen regionaler Erzeuger*innen findet ihr Produkte, die von anderen Höfen deutschland- und europaweit kommen. Dort müsst ihr immer nachlesen bzw. nachfragen, was tatsächlich aus der Region stammt. Das könnt ihr euch beim wöchentlichen Abholen des Solawi-Gemüses sparen, denn ihr bekommt ohnehin genau das, was auf den Äckern in Kirchvers gerade wächst.
Ein weiterer wichtiger Unterschied betrifft die Löhne der Mitarbeitenden auf dem Hof Grünzeug: Durch die Vermarktung über unsere Solawi konnten die Löhne angehoben werden. Weitere Infos und die konkreten Lohnhöhen findet ihr im Haushalt.

Nun noch zu einem Kritikpunkt, der ganz selten, aber eben doch manchmal zu hören ist:

"Ihr seid ja gar keine richtige Solawi!"

Dieser Vorwurf kann sich auf verschiedene Punkte beziehen. Manche könnten denken, dass in einer Solawi die Mitglieder das Gemüse in Eigenregie anbauen. Das ist und war nie der Kerngedanke von Solidarischer Landwirtschaft. Die Idee ist, einen professionell geführten Betrieb – meist eine Gemüsegärtnerei – zu finanzieren und im Gegenzug die Produkte an die Solidargemeinschaft zu verteilen.
Es könnte auch gemeint sein, dass der Betrieb Grünzeug das dort produzierte Gemüse auch noch über andere Wege vermarktet und deshalb nicht zu 100% Solawi ist. Tatsächlich nehmen wir ca. 60 bis 70% der Produktion unseres Solidarhofs ab. Warum nicht 100%? Das hat verschiedene Gründe, aber wir finden nicht, dass wir deswegen eine weniger solidarische Landwirtschaft betreiben!